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  • Smilla Diener

Index 21: Richte keinen Schaden an

Moralvorstellungen sind im Design so verbreitet wie in anderen Disziplinen auch. Das Design nimmt aber eine besondere Rolle ein, weil es Produkte hervorbringt, die andere in ihrem Handeln ermächtigt. Wie gehen wir mit dieser Verantwortung um? Smilla macht erste Schritte im Feld der Designethik.


Leonardo da Vinci: Malermeister, Anatom und – laut Industriedesign-Basisliteratur – «der erste Designer».[1] Obwohl der Schöpfer der Mona Lisa grösstenteils friedfertige Gestaltungen schaffte, stand er mit vielen seiner Förderer unter folgendem Vertrag: Letztere verlangten neue Erfindungen für die Austragung ihrer Kriege, wodurch Ersterer seine übrigen Projekte finanzierte. So zum Beispiel da Vincis Ribauldequin, eine Karrenbüchse mit Rohren angeordnet wie bei einer Orgel. Diese feuert 144 Geschosse auf einmal ab und gilt als Vorläufer des modernen Maschinengewehrs.[2]


Design und Gewalt sind enger verwachsen als uns lieb ist – das meinen auch die Autor:innen von «Design and Violence», einem Kurationsprojekt am Museum of Modern Art (MoMA) in Manhattan. Im Vorwort ihrer Publikation schreiben Paola Antonelli und Jamer Hunt: «Wie ist es zum Beispiel möglich, dass Michail Kalaschnikow, der Konstrukteur des Sturmgewehrs AK-47, das heute als die am weitesten verbreitete Feuerwaffe der Welt gilt [...], in seinen späteren Jahren naiv reflektieren konnte: ’Mein seelischer Schmerz ist unerträglich ... Wenn mein Gewehr das Leben von Menschen gefordert hat, kann es dann sein, dass ich ... ein Christ und orthodoxer Gläubiger, an ihrem Tod schuld war?’»[3]


Trotz ihrer scharfen Kritik am destruktiven Wesen der Designdisziplin scheuen die beiden Kurator:innen die Aussage, dass es moralisch nicht haltbar ist, Waffen zu designen. Das liegt wohl daran, dass diese Haltung deutlich komplexere Fragen nach sich zieht als der einfache Satz «Do No Harm» (eng. «richte keinen Schaden an») andeutet.


Zweck und Verantwortung


Der Technologiephilosoph John Forge findet in seinem Buch «The Morality of Weapons Design and Development»[4] dennoch klare Worte: Waffen sind die Mittel für Schaden oder Leid. Sind wir uns einig, dass anderen Leid zuzufügen moralisch falsch ist, müssen wir uns auch einig sein, dass es falsch ist, die Mittel für Leid bereitzustellen.[5]

Forge unterscheidet zwischen dem Hauptzweck (primary purpose) eines Artefakts; «Ein Gewehr ist zum Schiessen da» und einem abgeleiteten Zweck (derivative purpose). Der abgeleitete Zweck eines Artefakts ist eine Folge des Hauptzwecks: «Mit einem Gewehr kann man sich verteidigen, weil es einschüchternd wirkt und man notfalls damit schiessen kann, um nicht selbst Schaden zu nehmen».

Die Beziehung zwischen Haupt- und abgeleitetem Zweck ist folgende: Ein Artefakt kann seinen abgeleiteten Zweck nur erfüllen, wenn es seinen Hauptzweck erfüllt. Demnach gibt es beispielsweise keine Waffen, die ausschliesslich der Verteidigung dienen.


Die Verantwortung für den Hauptzweck eines Artefakts (und dessen Ausübung) liegt laut Forge bei der:dem Gestalter:in. Das klärt die Entscheidung gegen die Entwicklung von Kriegswaffen, bietet uns aber kaum Hilfe für eine riesige Bandbreite an weniger eindeutigen Fällen.


Gegen die Mehrdeutigkeit


Wann wird ein Werkzeug zur Waffe? Wie dehnbar diese Definitionen sind, zeigt sich auch auf juristischer Ebene. 2018 stritten sich das Bundesamt für Polizei Fedpol und der Verband der Schweizer Messerschmied-Meister über ein neues federnunterstütztes Klappmesser. Dieses öffnet man erst von Hand, bevor es mit einem Federmechanismus ganz aufspringt. Der halbautomatische Mechanismus veranlasste die Fedpol dazu, das neue Modell als Waffe einzustufen. Laut Reto Böhlen werden diese Messer aber gerne in der Logistik eingesetzt, um Pakete einhändig zu öffnen. Das mache sie zu Werkzeugen, so der Präsident des Messerschmied-Verbands.[6]


Im Fall des halbautomatischen Klappmessers könnte die fehlende Klarheit über den Hauptzweck der:dem Designer:in vorgehalten werden. Diese Situation haben zahlreiche Designer:innen schon zu umgehen versucht: Zu ihnen gehört John Cornock. Der britische Industriedesigner hat 2008 das «New Point Knife» präsentiert, das die klassische Spitze eines Küchenmessers durch eine R-förmige Spitze ersetzt. Damals verkündete Cornock, dass niemand einfach eine «New Point» aus der Küchenschublade nehmen und damit jemanden töten könne.[7] Das Internet reagierte mit Hohn.[8] Aufgrund der Kritik an der Sicherheit von Cornocks Erfindung verspricht er mittlerweile nur noch, dass sie «Das Risiko schwerer Verletzungen deutlich verringert».

Einen ähnlichen Ansatz verfolgte Manuel Wüst am Institut für Integrative Gestaltung an der Hochschule für Gestaltung und Kunst (HGK) in Basel. Im Rahmen seiner Masterarbeit entwickelte er ein Schneidwerkzeug für die Hilfsorganisation Medair, das zum Bau von Notunterkünften im Südsudan verwendet werden sollte. Medair darf – basierend auf dem humanitären Prinzip – keine herkömmlichen Messer verteilen, da diese als Waffen missbraucht werden könnten.[9] Dafür ordnete Wüst die Klingen an der Innenseite eines symmetrisch gekrümmten Griffs an.


Ethik für Designer:innen


«Richte keinen Schaden an» ist eine normative Aussage; eine Beschreibung dessen, was Design soll (oder nicht soll). Sie ist eine von vielen in einem Wald von Vorstellungen darüber, wie wir Designer:innen mit den Verantwortungen unserer Rolle umzugehen haben.


Ein in diesem Zusammenhang bemerkenswertes Projekt ist «Ethics for Design». Es ist das Produkt eines internationalen Kollektivs, das zwölf Designer:innen und Ethiker:innen porträtiert. Die daraus resultierende Dokumentation begleitet die Gestalter:innen, wie sie ihre Projekte durch ein Spannungsfeld von diversen Ansprüchen navigieren. Sie kommen zu folgendem Schluss: Wer für das eigene wirtschaftliche Überleben, die finanziellen Interessen der Kund:innen und das Wohlbefinden der Nutzer:innen gestaltet, brauche einen ethischen Kodex. Es sei zudem nötig, diesen gemeinsam auszuarbeiten.[10]


Zu den Interviewten gehört Sarah Gold. «Designer:innen sind sehr gut darin, sich gegenseitig zu kopieren», meint die Londoner Systemdesignerin, «Doch für ethisches Design fehlt uns der ‘Blueprint’ noch.» Gold sieht in der Entwicklung von Modellen für ethisches Designen eine der wichtigsten Herausforderungen der Gegenwart. Denn Prozesse, für die es schon eine Vorlage gibt, können günstiger und somit einfacher in die eigene Arbeit aufgenommen werden.

Das heisst: Schärfen wir unser Verständnis für ethisches Design, fällt es uns einfacher, Modelle dafür auszuformulieren. Diese wiederum werden eher in Designprozesse integriert.

«Wir haben jetzt die Gelegenheit, einige ethische Muster zu entwickeln [...], die von den Generationen nach uns übernommen werden», so Gold.[11] Das ist eine aufregende Chance. Die Verantwortung liegt bei uns.



von Smilla Diener



 

Empfehlungen:


Für einen Einstieg in die Ethik gibt es handfeste Ressourcen: Ich empfehle für Designer:innen die beiden Plattformen «Ethical Design Guide» von Sarah L. Fossheim und «Design Ethics» von Lucy West. Beide stellen umfassende Artikel und Wegleitungen zu Verfügung.



 

[1] Bürdek, Bernhard. 2015. Design: Geschichte, Theorie und Praxis der Produktgestaltung, 4. Auflage. Basel: Birkhäuser [2] https://www.historynet.com/leonardo-da-vincis-war-weapons.htm# (4.10.21) [3] Antonelli, Paola/Hunt, Jamer. 2015. Design and Violence. New York: The Museum of Modern Art, S. 6 [4] Forge, John. 2018. The morality of weapons design and development: emerging research and opportunities. Hershey PA: IGI Global [5] ebd, S. 34 [6] https://www.aargauerzeitung.ch/schweiz/waffe-oder-werkzeug-umstrittener-neuer-messertyp-soll-legal-werden-ld.1506871 (4.10.21) [7] https://www.theguardian.com/uk/2009/jun/14/anti-stab-knife-crime (4.10.21) [8] https://www.fastcompany.com/90186050/totally-ridiculous-an-anti-stab-knife / https://www.ifsecglobal.com/uncategorized/the-new-point-knife-pointlessly-pointless/ (4.10.21) [9] https://www.hochparterre.ch/campus/blog/post/detail/werkzeug-nicht-waffe/1507204895/ (4.10.21) [10] http://www.ethicsfordesign.com/about (4.10.21) [11] http://www.ethicsfordesign.com/watch (4.10.21)

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