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  • Moritz Gysi

Index 17: Einfältige Personas

Die Gestalt eines Objektes beeinflusst massgeblich, auf welche Art und Weise Menschen damit interagieren. Geht es um Nutzer:innenfreundlichkeit, kommt Designer:innen daher eine wichtige Rolle zu. Doch wie gelingt es, diese herzustellen? Moritz denkt über einige Methoden aus der Praxis nach.


Um Nutzer:innenfreundlichkeit zu gewährleisten, muss man erst einmal herausfinden, wer diese Nutzer:innen überhaupt sind und was für Bedürfnisse sie haben. Dafür gibt es verschiedene Methoden, wie sogenannte empathy maps, user journeys oder Personas. Während dem Studium durften wir uns oft in der Beschreibung letzterer üben: Eine Persona ist ein fiktiver Beispielmensch, anhand dessen man die Bedürfnisse eines Zielpublikums abzuleiten versucht und der als Platzhalter für dieses funktioniert.


Eine Aufgabe, mit welcher ich mich nie richtig anfreunden konnte. Ich misstraue Personas und finde das Vorhaben irgendwie übergriffig und anmassend. Angesichts dieser Mensch-Schablonen rühren sich in mir ähnliche Gefühle wie bei der Betrachtung eines Versicherungsberaters, welcher mir aus irgendeiner Werbung entgegengrinst. Was so aalglatt und kantenlos daherkommt, muss irgendwie faul sein, denke ich. In der Annahme, dass dies ein persönliches Problem sei, erfüllte ich diese Übungen dann jeweils zähneknirschend.


Im Zusammenhang mit meiner aktuellen Lektüre (Seitz, Tim: Design Thinking und der neue Geist des Kapitalismus. Transcript 2017) beschäftigte ich mich nochmals mit Personas. Ich sah mich in meinem Misstrauen bestätigt: «Repräsentieren ist Interpretieren ist Konstruieren» lautet die Überschrift eines Kapitels zum Thema. Seitz führt aus: «Wir wissen spätestens seit Foucault (1991: 34-35), dass man den Dingen, wenn man über sie spricht, immer ein gewisses Mass an Gewalt antut, weil ‘das Zeichen bereits eine Interpretation [ist], die sich nicht als solche zu erkennen gibt’ (Foucault 2001:735).» Und dem Prinzip der Interpretation liege nichts anderes als der Interpret zu Grunde, wird Foucault nochmals zitiert.


Dem folgend schliesse ich, dass die «Zeichen» (Personas), die wir erschaffen, nur bedingt ein Abbild der Nutzer:innen sind und viel mehr ein Konstrukt, dass uns (die Interpret:innen) widerspiegelt. So gesehen verhindert diese Methode wirkliche Nutzer:innennähe mehr, als dass sie diese herstellt.

Tatsächlich habe ich die Erfahrung gemacht, dass die Beschreibung von Personas häufig nicht auf einer ergebnisoffenen Untersuchung basiert, sondern selektiv erfolgt. Wir Student:innen leiteten diese entweder direkt aus internalisierten Stereotypen oder anekdotischen Umfragen in unserem Umfeld ab.


Personas haben die verlockende Eigenschaft sehr nahbar zu wirken: Erika, 72 Jahre, liest jeden Tag die Zeitung und interessiert sich nicht für soziale Medien. Die Vorurteile setzen ein, das Bild von Erika verfestigt sich und ich glaube sie zu kennen. So kann ich mich aber auch nicht mehr überraschen lassen. Mit meiner Beschreibung von Erika habe ich gleichzeitig eine Welt erschaffen, von dem, was Erika nicht ist. Ein «blinder Fleck» entsteht. Das ist ein Problem, denn in einem Designprozess ist ein Verständnis für die Menschen, die das Produkt schlussendlich nutzen werden, unabdingbar.


Eine Alternative zum Beschrieb einer Persona wäre nicht den Menschen selbst, sondern die Situationen und Zustände, in welchen er sich bewegt, zu beschreiben. Wenn das Alter nicht als Eigenschaft von Erika, sondern als möglicher Zustand eines Menschen betrachtet wird, gewinnt das Szenario an Offenheit. Es entstehen Räume, in welchen sie auf verschiedene Art und Weise, vielleicht sogar widersprüchlich agieren kann. Neue Fragen drängen sich auf: Inwiefern spielt das Geschlecht in dieser Situation eine Rolle? Was bedeutet «Frau-Sein» in diesem Alter?


Fragen, die unerlässlich sind, wenn ein Design nicht exklusiv, sondern inklusiv sein soll. Wenn es darum geht, mit Gestaltung keine Zuschreibungen, sondern Bedürfnisse und Lebensweisen sichtbar zu machen.


von Moritz Gysi, 24 Jahre alt, Student, liest jeden Morgen die Zeitung



 

Lektüre: Seitz, Tim: Design Thinking und der neue Geist des Kapitalismus. Transcript Verlag 2017

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