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  • Smilla Diener

Index 16: Design sortieren

Das Projekt U-Joints untersucht und kategorisiert Verbindungen, von einfachen Schrauben über ausgetüftelte Holzgelenke und neuartige Schweissnähte. Seit ihrer ersten Ausstellung 2018 in Milano arbeiten Anniina Koivu und Andrea Caputo mit Expert:innen aus allen Bereichen des Designs und der Industrie an einer umfassenden “Taxonomie der Verbindungen“. Smilla nahm die dritte Ausstellung im Gewerbemuseum Winterthur zum Anlass mit Anniina Koivu über das Projekt zu sprechen.



Smilla: Anniina, vielen Dank, dass du dir die Zeit genommen hast. Ich war am Eröffnungssonntag im Gewerbemuseum Winterthur, wo momentan U-Joints: Adhesives and Fusions zu sehen ist. Nach dem Salone del Mobile 2018 und der ECAL 2019 ist dies das dritte Mal, dass du und Andrea Caputo einen Teil eures Projekts ausstellt – was ist dieses Mal anders?


Anniina: Was die meisten Leute nicht wissen, ist, dass diese Idee als etwas eher Kleines angefangen hat. 2018 dachten wir, wir würden eine kleine, nicht-kommerzielle Show zum kommenden Salone in Mailand beisteuern. Wir kontaktierten die ersten zwanzig Designer:innen und dachten, dass die Hälfte von ihnen vielleicht absagen würde. Aber das tat niemand. Das hat uns überrascht. Wir merkten, dass wir mit dem Thema Gelenke und Verbindungen einen Nerv getroffen hatten und erst dann begannen wir, tiefer in die Recherche einzusteigen. Die erste Ausstellung war also eine Art eklektische Einführung in verschiedene Arten von industriellen Verbindungen.


In Winterthur ist es nun fast das Gegenteil. Wir konzentrieren uns auf ein bestimmtes Kapitel in der gesamten Forschung – Klebstoffe, Schweiß- und Schmelzverbindungen. Da sowohl Klebstoffe als auch Verschmelzungen in gewisser Weise unsichtbar sind – oder zumindest, wenn sie fertig sind, unsichtbar werden – gab es nicht viele Rohmaterialien zu zeigen. Die Schönheit eines Klebstoffes ist weniger offensichtlich als zum Beispiel die Schönheit einer Schraube. Wir mussten es also andersherum betrachten und viel mehr auf Forschungsprojekte und Anwendungen eingehen.


Smilla: Absolut. Als ich den Ausstellungsraum zum ersten Mal betrat, war ich zunächst überwältigt von der schieren Menge an Objekten, die auf Sockeln aufgereiht, an den Wänden befestigt waren und von den Decken hingen. Ich stand vor dem ersten Podest und betrachtete die Schweißnähte einer winzigen “Doktor Oetker”-Zuckerglasur-Tube und nahm den großen Workshop Chair von Jerszy Seymour zunächst gar nicht wahr. Das Auge beginnt sofort zu wandern. Was hat dich bei der Gestaltung des Ausstellungsraums geleitet?


Bild: "Workshop Chair" von Jerszy Seymour
Bild: "Workshop Chair" von Jerszy Seymour

Anniina: Wir haben dieses Raster-Layout aus verschiedenen Gründen gewählt. Ein sehr praktischer Grund ist, dass der Raum einen visuell überwältigenden Holzboden hat, der sich mit allem, was sonst noch sichtbar ist, beisst. Er stand im Kontrast zu den weißen Podesten. Mit den unterschiedlich großen und bunten Objekten darauf war die Szenografie so chaotisch, dass wir sie homogenisieren mussten indem wir den Boden mit diesem weissen Folienteppich auslegten.


Der grundlegende Ansatzpunkt von U-Joints ist, dass wir hoffen, dass das Auge der Besucher:innen geschult wird; dass man anfängt, die Dinge genauer zu betrachten und die Qualität eines Objekts zu erkennen, die sich in seinen Details versteckt. Es ist dezidiert gegen diese Idee des “Daumen hoch/Daumen runter”, sich innerhalb einer Sekunde und rein aufgrund des ersten ästhetischen Eindrucks für oder gegen ein Objekt entscheiden zu müssen. Daher ist die Ausstellung nicht sehr “instagrammable”. Es liegt an den Besucher:innen, sich zu wundern und anzuhalten, wo immer Ihr Auge hinfällt, und nicht an uns, eine Chronologie aufzuerlegen. Wir haben die Objekte zwar nach taxonomischen Gruppen geordnet, aber sie sind nicht als solche beschriftet.


Smilla: Seymours Workshop Chair zeigt eine großartige, überspitzte Behandlung eines der Protagonisten eurer Ausstellung: Leim. Im Ausstellungskatalog heißt es über Seymour, dass er eine konzeptionelle Werkreihe entwickelt hat, die die Möglichkeiten einer „Amateurgesellschaft“ auslotet. Damit greift er eine spannende Bedeutung von Leim auf: Als Amateure brauchen wir Kleber und Klebeband zum Kitten, zum Reparieren von Gegenständen – oft etwas unsauber oder kurzsichtig. Doch was Seymour andeutet, ist, dass Leim – diese formbare, klebrige Masse – etwas in uns auslöst. Sie ist niederschwelliger, hat mehr Bastelcharakter als andere Verbindungsmethoden wie etwa eine Schraube, für die man schon ein weiteres Werkzeug braucht. Dieser Stuhl hat mich wirklich sehr fasziniert.


Anniina: Nun, im Fall von Seymour nennen wir ihn manchmal scherzhaft den „Kaugummi-Stuhl“, weil er wirklich amateurhaft aussieht. Es ist frech. Seymour hat einen sehr konzeptionellen Ansatz, oft mit einem performativen Element kombiniert.

Und bei diesem “Eröffnungsstück” versteht man sofort, dass es in dieser Ausstellung nicht um eine hölzerne Sitzgelegenheit oder mechanische Konstruktionen geht, sondern um die Leimverbindung, in diesem Fall überspitzt und ikonisch. Und ich finde den Workshop Chair großartig. Seine Schönheit liegt in dem Widerspruch, dass der Leim in einem Topf gekocht werden kann, sogar bei einer Ausstellungseröffnung. Trotzdem ist der Stuhl unglaublich stabil, er hat alle Tests bestanden, um in einem Büro verwendet zu werden. Man hat diese Zweideutigkeit zwischen etwas, das man zu Hause machen kann – do it yourself – sogar mit Kindern, aber auf der anderen Seite ist er wahrscheinlich robuster als viele der anderen Stücke, die wir in der Ausstellung haben.


Smilla: Ich würde gerne ein bisschen mehr über den Wert und das Potenzial der Untersuchung von Verbindungen sprechen. In der Ausstellung hat mich besonders das Material Complite von Ryuichi Kozeki fasziniert. Im Ausstellungskatalog steht, dass Complite ein harzimprägniertes Sperrholz ist, dessen Haltbarkeit doppelt bis dreifach so hoch ist wie die von natürlichem Holz. Diese Möglichkeit, ein bekanntes Material zu nehmen und es weiter zu behandeln, in diesem Fall, um die Haltbarkeit zu erhöhen, ohne dass das Material seine wesentlichen Eigenschaften verliert, hat mich danach noch eine Weile beschäftigt.


Anniina: Nun, ich hoffe, du bist dem auch kritisch begegnet! Wir hatten einige Diskussionen darüber, ob wir es ausstellen sollten oder nicht, da es im Moment nicht sehr umweltfreundlich ist. Aber das gilt für viele zeitgenössische Klebstoffe. Die Frage geht an die Designer:innen, wo ein solch außergewöhnlich starkes Material, das Harz mit Holz mischt, Sinn machen würde. Es gab auch ein Beispiel für Sperrholz von Ville Kokkonen für Stora Enso. Ich denke, das ist ein besonders wichtiges Exponat. Stora Enso ist einer der größten Zellstoff- und Papierproduzenten Finnlands. Sie haben diese neue Art von Leim namens NeoLigno® entwickelt. Er wird zum ersten Mal überhaupt öffentlich präsentiert. Eigentlich aus einem Nebenprodukt von Holz hergestellt, könnte dieses Material ein Meilenstein sein. Stellen Sie sich vor, es gäbe die Alternative, Sperrholzobjekte oder Möbelstücke mit Klebstoffen herzustellen, die Nebenprodukte von Holz sind. Es befördert die Diskussion über die biologische Abbaubarkeit im Design und in der Abfallwirtschaft auf eine völlig neue Ebene.


Smilla: Ein weiteres Exponat, das mir sehr gut gefiel, war der Hocker Frozen in Time von Studio Wieki Somers, bei dem vier Bambusbeine in ein UV-härtendes Harz getaucht und fixiert wurden. Es brachte mich zum Nachdenken darüber, dass ich Leim als eine sehr utilitaristische Sache ansehe, an die man erst dann denkt, wenn man bereits einen Bedarf dafür hat. Studio Wieki hat in diesem Fall etwas sehr Poetisches mit einem Material geschaffen, das ich bisher nicht als solches erlebt habe.


Bild: "Frozen in Time" Stuhl von Atelier Wieki Somers
Bild: "Frozen in Time" Stuhl von Atelier Wieki Somers

Anniina: Ja. Die Objekte werden im Atelier von Wieki und Dylan entwickelt. Denk hier auch an die Poesie eines Klebers, der im Dunkeln flüssig ist und bei Licht erstarrt.


Smilla: Auf der anderen Seite des Spektrums habe ich noch einen weiteren Favoriten, bei dem ich mich selbst ein bisschen dafür verurteile – es ist die Lampe Caterpillar von Studio AATB.


Anniina: Okay, warum verurteilst du dich selbst dafür?


Smilla: Ich habe versucht, zum Kern dessen vorzudringen, warum ich mich ein bisschen dafür verurteilt habe, dass ich es so sehr mag. Ich glaube, wenn man schon eine Weile im Design tätig ist, entwickelt man so etwas wie einen Fetisch für die allereinfachste Idee. Und Caterpillar ist ein exzellentes Beispiel für die allereinfachste Art, etwas umzusetzen. Das superreduzierte Lichtband besteht aus einer flexiblen Leiterplatte und einer verlöteten Membran mit LEDs und wird dann einfach leicht gebogen an die Wand genagelt. Das war es, was mich fasziniert hat. Zuerst sah ich es als dieses extrem eigene und ehrliche Design. Aber realistisch betrachtet, wenn ich Freund:innen von mir fragen würde, die nicht im Bereich Design studieren oder arbeiten, glaube ich nicht, dass es sie wirklich zufriedenstellen würde. Denn die Erwartungen der meisten Leute an eine Leuchte sind wahrscheinlich sehr weit davon entfernt.


Bild "Caterpillar" Leuchten von Studio AATB
Bild "Caterpillar" Leuchten von Studio AATB

Anniina: Andrea Anner und Thibault Brevet vom Studio AATB haben den schönen Wunsch, für jede Ausstellung, an der sie teilnehmen, ein neues Stück zu produzieren. Es ist eine Möglichkeit für sie, ihr Experimentieren und Forschen voranzutreiben. Im Allgemeinen sind ihre Arbeiten selbstproduziert. Und das ist auch hier der Fall. Die Lampe ist also kein Endprodukt, auch wenn sie es sein könnte – es ist der erste funktionierende Prototyp. Sie regt in ihrer Einfachheit zum Nachdenken an, wie du es formuliert hast.


Smilla: Wenn man sich andere Exponate ansieht, umfasst die Sammlung Objekte, die ganz unterschiedlichen Kulturkreisen zuzuordnen sind: Die Fossili Moderni Stehleuchte von Massimiliano Adami beispielsweise ist wohl eher am Rande unseres Verständnisses von Industriedesign angesiedelt. Aber ihr ehrt auch Klassiker wie den Plopp Stool von Oscar Zieta oder den Blow Chair von Zanotta oder den Stool 60 von Alvar Aalto, Alltagsgegenstände wie UHU-Kleber oder Scotch-Tape oder sogar historische Stücke wie den 1006 Navy Chair von Emeco. Habt ihr einen Schlüssel für eine Balance zwischen diesen verschiedenen Bereichen oder ergibt sich diese bei der Suche und Auswahl der Exponate?


Bild: "Fossili Moderni" Leuchte von Massimiliano Adami
Bild: "Fossili Moderni" Leuchte von Massimiliano Adami

Anniina: Ich denke, die Stücke kommen auf eine ziemlich natürliche Weise zusammen. Letztendlich sollte sich die Auswahl nicht zu sehr wiederholen, die Exponate sollten verschiedene Geschichten erzählen und die gesamte Ausstellung sollte Abwechslung bieten. Aber natürlich hatten wir einige Stücke von Anfang an im Kopf. Seymour war eine naheliegende Wahl. Andere kamen hinzu, die sich mit dem Thema Kleben und Verschmelzen auseinandersetzten.


Smilla: Interessant. Ich habe das Gefühl, dass forschungsbasierte Designarbeit, wie du sie mit U- Joints machst, immer mehr an Bedeutung gewinnt –


Anniina: Es kann nur so und so viele Designer geben, die Objekte entwerfen. Die Szene ist schon ziemlich gesättigt. Deshalb ist es toll, dass es jetzt auch andere Möglichkeiten gibt, in der Kuration, Vermittlung und Kommunikation, Produktentwicklung und so weiter.


Smilla: Ja. Das passt gut zu meinen Gedanken über das Kuratieren und diesen nicht-neutralen Standpunkt. Indem du Exponate wie die Active Shoes oder die “Rapid Liquid Printing”-Projekte des MIT Self Assembly Lab auswählst, gibst du auch eine persönliche Einschätzung darüber ab, wohin sich Klebstoffe und Fusionen deiner Meinung nach in einem breiteren Kontext entwickeln.


Bild: "Rapid Liquid Printing"-Modelle des MIT Self Assembly Lab
Bild: "Rapid Liquid Printing"-Modelle aus dem MIT

Anniina: Ja! Das war ein wichtiges Thema für das Buch. An einem Punkt hinterfragten wir das gesammelte Material und waren nicht sicher, wo wir die Forschung beenden sollten. Und die Frage kam wieder auf, als wir die Welt des 3D-Drucks betraten. Werden bei der additiven Fertigung Verbindungen hergestellt? Wenn man ein Objekt Schicht für Schicht aufbaut, wird dann nicht paradoxerweise das gesamte Objekt zu einer Verbindung? Hier kann man die einzelne Verbindung nicht mehr identifizieren. Im Buch haben wir uns entschieden, genau hier einen Schlussstrich zu ziehen, und wir öffnen dieses Thema für eine gemeinsame Diskussion mit verschiedenen Expert:innen. Wir wissen nicht wirklich, wohin das führt. Es ist eine offene Frage, aber es ist interessant zu hören, wie verschiedene Expert:innen unterscheiden, inwieweit eine gedruckte Verbindung eine Verbindung ist oder nicht.


Smilla: Was hoffst du, dass die Besucher:innen von dieser Ausgabe von U-Joints mitnehmen?


Anniina: (lacht) Ich weiß nicht, ob ich darauf hoffe, aber ich bin mir sicher, dass sie zunächst verwirrt sein werden. Ich würde hoffen, dass sie von der Vielfalt und den unerwarteten Objekten unterhalten werden. Ich mag die Idee, zunächst zu rätseln und die Besucher:innen fragen zu lassen, warum ein Infusionsbeutel an einer Stange zwischen einem Einkaufswagen und einer Design-Ikone, wie zum Beispiel Dixons Pylon-Stuhl, hängt. Das Bindeglied ist natürlich die Schweißnaht. Aber das erschließt sich erst auf den zweiten Blick. Ich würde mir sehr wünschen, dass die Besucher:innen die Beschreibungen lesen. Wie immer ist die Herausforderung bei dieser Art von Ausstellungen, dass sie erklärungsbedürftig sind, es sei denn, man ist eine Designexpertin und weiß, wo man suchen muss. Ich hoffe also, dass die Leute zuerst genau hinschauen, lesen und dann über die Qualität der Details und Objekte entscheiden, die ihnen präsentiert werden.


Anniina Koivu ist Head of Master Theory im Design an der University of Art and Design Lausanne (ECAL) und arbeitet nebenan als Kuratorin und Strategin. Seit 2018 entwickelt sie zusammen mit Andrea Caputo das Projekt U-Joints, bei dem sie Verbindungen sammeln, kategorisieren und präsentieren. Die erste Auflage einer umfassenden Publikation zu U-Joints wird im Herbst 2021 veröffentlicht.

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